Rollenspielen-Broschüre – Die Projektidee | Hintergründe. Grundsätze. Ansätze.
Chips, Limo, Kuchen, Tee, Spielekonsole, Fußbälle und, und, und…alles da, aber niemand kommt! Viele engagierte Menschen kennen den Gefühlsmix aus Frust, Trauer, Ohnmacht, Selbstzweifel und Wut, wenn sie ein offenes Veranstaltungsangebot an junge Menschen richten und es auf überhaupt keine Resonanz stößt.
Woran mag das Fernbleiben gelegen haben? War der Veranstaltungsort zu weit entfernt? Hat sich etwa im Veranstaltungsflyer beim Datum ein Tippfehler eingeschlichen? Oder war vielleicht entscheidender, dass die Zielgruppe sich vom Angebot einfach nicht richtig angesprochen fühlte?
Wollen sollen, was andere wollen.
Die meisten Angebote im sozialen Bereich richten sich an eine speziell ins Auge gefasste Zielgruppe und wollen sich einer speziellen Herausforderung widmen, die sich der Gruppe stellt, die wiederum die Gesellschaft vor Herausforderungen stellt. Daher werben viele Angebote mit einer zielgruppenspezifischen Ansprache und benennen bereits vorab den Nutzen, den Teilnehmende aus dem Angebot ziehen sollen.
So wichtig und richtig es auch ist, Angebote an eine klar umrissene Gruppe zu adressieren und Ziele einer Veranstaltung vorab zu formulieren, so bedenklich und risikoreich bleibt es zugleich. Soll sich beispielsweise ein Angebot an junge geflüchtete Männer* richten, um ihnen Unterstützung anzubieten für die Suche nach einem Ausbildungsplatz, schwingt dabei immer die Gefahr mit, zu homogenisieren und zu pauschalisieren („Geflüchtete Männer* können nicht für sich selbst sorgen.“), Schuldgefühle und Erwartungsdruck bei der Zielgruppe auszulösen („Geflüchtete Männer* müssen einen Ausbildungsplatz finden.“) und Machtungleichheiten zu reproduzieren („Es begegnen sich Expert*innen und Unterstützungsbedürftige.“).
Diese skizzierten Spannungsfelder bei der Ausgestaltung sozialen Engagements lassen sich in einer nach wie vor stark von Ungleichheiten und Ungleichmachungen durchzogenen Gesellschaft nicht einfach auflösen. Dennoch lässt sich in den Widersprüchen und gegen die Ungleichheitsverhältnisse arbeiten. Viele Unterstützungsangebote können heterogener, zugewandter, partizipativer, ergebnisoffener und machtkritischer gestaltet werden, so dass sie bei der in den Blick gefassten Zielgruppe mehr Beteiligungslust auslösen.
Eine Schweigekultur muss nicht in „der Kultur“ begründet liegen.
Viele Fachkräfte und Ehrenamtliche im sozialen Bereich haben in den letzten 1-2 Jahren einen vermehrten Unterstützungsbedarf von jungen geflüchteten Männern* wahrgenommen. Sie spüren und sehen bei vielen der Männern* Suchbewegungen, Frustrationen und auch Strategien des Verschweigens von Herausforderungen. Viele der daraufhin initiierten (auch teils niedrigschwelligen) Unterstützungsangebote für die Männer* wurden von diesen wenig oder gar nicht angenommen. Nicht wenige Engagierte erklärten sich eine ablehnende Haltung dann mit dem Verweis auf „die Kultur“, weil sie das in dominanten Diskursen über Flucht und Migration geläufige (kultur-)rassistische Erklärungsmuster „Ein unerwünschtes Verhalten ist einer ‚anderen‘ Kulturauffassung geschuldet.“ bewusst oder unbewusst verinnerlicht haben. Die Gründe für eine scheinbare Abwehr sind aber meist vielschichtiger. Oftmals spielen dabei viele sich wechselseitig verstärkende Faktoren eine Rolle.
Welche Faktoren sind das? Bei aller Heterogenität innerhalb der Gruppe eint die meisten geflüchteten Männer*, dass sie von Diskriminierungen und Rassismus in Deutschland betroffen sind. Nicht wenige von ihnen verinnerlichen die – sich ständig im Lebensalltag wiederholenden – abwertenden Fremdzuschreibungen aus Teilen der Mehrheitsbevölkerung und beginnen, sich selber abzuwerten. Gleichzeitig haben viele dieser Männer* mit inneren und äußeren Rollendynamiken zu kämpfen. So müssen sie nicht nur ihre Eigenidentität in Deutschland neugestalten und ein Sicherheitsgefühl durch Handlungswirksamkeit und Eigenerfolge gewinnen, sondern oftmals auch gleichzeitig mit Machtverschiebungen in vormals festeren Rollengefügen in ihren Partnerschaften oder Familien umgehen.
Suchbewegungen, Ohnmachtsgefühle, Neuaushandlungen von Rollenaufteilungen…darüber zu reden, wird meist aufgrund von starren Rollenmusterzuschreibungen als Zeichen von „Schwäche“ ausgelegt.
Nach der Flucht.
Gleichzeitig sehen sich viele der geflüchteten Männer* nicht mehr hauptsächlich als „Geflüchtete“. Sie wollen auch als Freund*, Nachbar*, Kollege*, Kommilitone* oder fürsorglicher Vater* in Deutschland gesehen und angesprochen werden. Sie haben Wege gefunden, ihr Leben selbstermächtigt, verantwortungsbewusst, solidarisch und zukunftsorientiert zu gestalten. Da finden sie es eher verstörend bis abwertend, immer wieder bei Begegnungen mit der Mehrheitsbevölkerung auf ihre Fluchtgeschichte und ihre (vermeintlichen oder wirklichen) Männlichkeits*vorstellungen reduziert zu werden.
Geflüchtete Männer* sind unterschiedlich betroffen von Benachteiligungen und ausgestattet mit Teilprivilegien. Als „Männer“ sind sie in unserer nach wie vor patriarchal strukturierten Gesellschaft privilegiert im Vergleich zu „Frauen“ und Menschen, die sich jenseits der Binarität von „Mann“ und „Frau“ verorten. Gleichzeitig sind sie als „marginalisierte Männer“ vielen Benachteiligungen ausgesetzt.
Wie können nun Unterstützungsangebote für geflüchtete Männer* den verschiedenen Herausforderungen und der skizzierten Heterogenität innerhalb der Gruppe der Männer* gerechter werden? Was könnte diese Männer* dazu motivieren, dass sie aus sich selbst heraus mehr Interesse und Lust an der Teilnahme an einem Angebot entwickeln?
- Geschütztere und hierarchieflachere Räume geben den Männern* die Möglichkeit, ungezwungen(er) in den Austausch zu kommen und auch Verletzungen anzusprechen.
- Der Austausch mit anderen Männern*, die schon lange oder immer schon in Deutschland leben, kann Gemeinsamkeiten männer*spezifischer Herausforderungen aufzeigen.
- Raum und Zeit für eigene Geschichten geben den Männern* die Möglichkeit, ihre Art des Erzählens und ihre Themen zu teilen.
- Herkunfts- und Fluchtthematiken nicht in den Vordergrund zu stellen, kann entlastend für die Männer* sein, denn viele von ihnen richten ihren Blick nach vorne.
- Neugierde und Offenheit auszustrahlen für die Themen, die die Männer* (vielleicht unerwartet) auf den Tisch bringen wollen, schafft Vertrauen und Mut, sich in einer Gruppe zu öffnen.
Sich in einer Gruppe zu öffnen, kann für die Männer* sehr herausfordernd sein; zumal, wenn man den Großteil der Gruppe und die moderierende Person nicht kennt. Für die Diskussion sensibler Themen und neue Begegnungen braucht es Eisbrecher; Eisbrecher wie Tischfußball.
Männer* an die Tische und Themen auf den Tisch.
Daher wurden bei Rollenspielen 2019 mit mobilen Tischfußballtischen vom „flixen“-Team, das Tischfußballturniere an beliebigen Orten organisiert und moderiert, in verschieden großen niedersächsischen Städten soziokulturelle Treffpunkte von Männern* mit und ohne Flucht-/Migrationserfahrungen aufgesucht. Die Teilnehmenden traten in einem Turnier in einem fairen Modus gegeneinander an. Fair, denn die Zweierteams wurden per Los nach jeder Runde gewechselt. So wurde der Gegenspieler* von eben in der nächsten Runde vielleicht schon zum Mitspieler* im neuen Zweierteam. Also ein ständiger Rollen- und Perspektivenwechsel auf spielerischer Ebene, der analog dazu im pädagogischen Teil auf theoretischer Ebene stattfand. Dazu wurde nach jeder zweiten Spielrunde das offene Themenfeld „Rollenvorstellungen und Zukunftserwartungen“ gemeinsam diskutiert.
So fand unter den Teilnehmenden viel spielerischer Wechsel und zwischenmenschlicher Austausch statt. Eine „anstrengende Wettkampfatmosphäre“ kam zu keiner Zeit auf, denn im Fokus stand das gemeinsame Spielen und Diskutieren.
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