Rollenspielen-Broschüre | Interview mit Serwan B. – Flucht ohne Ende?
Geflüchtete Männer* sind vielen Eigen- und Fremderwartungen ausgesetzt auf dem Weg hin zu einem selbstbestimmten und glücklichen Leben in Deutschland. Serwan hat sich im Laufe der Jahre ein neues Leben in Deutschland aufgebaut, eine neue Familie gegründet, einen Job und eine neue Heimat in Oldenburg gefunden. Welche Rollenerwartungen als Mann* stellte er auf diesem Weg an sich? Welche Erwartungen hatten Freund*innen, Familie und Gesellschaft? Was bereitet ihm Hoffnung, was Sorge? Warum denkt er immer öfter an ein Notfall-Land? Und warum feiert er zweimal im Jahr seinen Geburtstag?
Du hast an unserer Tischfußball- und Diskussionsrunde in Oldenburg teilgenommen. Was waren deine Eindrücke von der Veranstaltung?
Ich dachte ja, wir spielen nur Tischfußball und das war es dann. Und eigentlich war ich gar nicht bereit, zu reden. Aber ihr habt es geschafft, dass ich dann doch viel erzählt habe. Und ihr habt mich reden lassen. Es ist gut, dass wir alle miteinander geredet haben. Man muss reden, man muss sein Herz hin und wieder mal öffnen. Für viele Teilnehmende der Veranstaltung war das etwas ganz Neues. Neu im Sinne, dass viele von ihnen noch neu in Deutschland sind und dass sie so offen in einer Gruppe unter Männern* bisher noch nicht geredet haben.
Die Veranstaltung wurde ja von einem Mann* moderiert und richtete sich ausschließlich an Männer*. Was wäre anders gewesen, wenn eine Frau* die Veranstaltung moderiert hätte?
Sicherlich hätte es Teilnehmende gegeben, die weniger von sich erzählt hätten. Ich hingegen hätte vielleicht sogar mehr erzählt, denn eigentlich erzähle ich eher Frauen* Geschichten aus meinem Leben. Aber vielleicht hat das gar nicht so einen großen Einfluss, ob ein Mann* oder eine Frau* die Veranstaltung moderiert. Es kommt doch stark auf den Typ Mensch an. Wichtiger ist die Gesamtheit der Person und nicht, ob sie eine Frau* oder ein Mann* ist.
Sensibel über Männlichkeits*themen in einer Männer*gruppe zu reden…ganz ehrlich: Hat da eigentlich jemand ernsthaft Lust draufgehabt?
Viele der Männer*, denen ich vorab von der Veranstaltung erzählt habe, hatten überhaupt keine Lust auf die Veranstaltung und vor allem auf die Fragen, die vielleicht gestellt werden würden. Und es hätte während der Veranstaltung auch passieren können, dass ein paar Männer* einfach mittendrin aufstehen und gehen, weil sie keine Lust haben, die Fragen zu Männlichkeiten* usw. zu beantworten. Über Männlichkeiten* zu reden, ist ein schwieriges Thema. Und es macht nur Sinn, wenn die Männer* auch Lust darauf haben und offen sind. Ich habe generell Interesse daran, darüber zu reden, was es heißt, ein Mann* oder eine Frau* zu sein. Wann bin ich eigentlich ein „richtiger“ Mann*? Hat das nur was mit dem Körper zu tun oder auch mit den Gefühlen?
Wir wird Männlichkeit* in deinem Familien- und Freundeskreis betrachtet? Welche Erwartungen werden an dich als Mann* gestellt?
In meinem Umfeld gibt es viele „dominante Männlichkeiten“. Es gibt Freunde, die sagen, dass ich Angst vor meiner Frau habe. Warum? Weil ich mich immer dann, wenn meine Frau krank ist, um sie und unsere Kinder kümmere und nicht mit den Freunden ausgehe. Die Freunde sagen dann, dass ich mich nicht durchsetzen kann zuhause und kein „richtiger Mann“ bin. Aber ich sag mir, „Was heißt das schon, ein „richtiger Mann“ zu sein?! Den Respekt, den meine Frau* mir gibt, den muss ich ihr zurückgeben“. Ich habe keine Angst vor meiner Frau, sondern Respekt vor ihr. Ich finde, wenn ich Respekt vor meiner Frau habe, dann bin ich ein „richtiger Mann“. In meiner Verwandtschaft reden die Frauen viel mit mir und ich mit ihnen, weil ich mich auch für Frauenrechte stark mache. Wir fühlen uns dadurch stärker verbunden.
Deine Frau und du: Wie teilt ihr zuhause die Aufgaben auf?
Wir haben zwei kleine Kinder und wir arbeiten beide. Meine Frau* arbeitet Teilzeit und ich arbeite Vollzeit. Wenn sie arbeitet, passe ich auf die Kinder auf. Und wenn ich arbeite, passt sie auf die Kinder auf. Meine Frau* hat es sich sehr gewünscht, dass sie arbeiten geht. Und ich finde es sehr gut, dass sie rauskommt und Abwechslung hat.
Du hast jetzt eine Familie, einen Job, Sicherheiten und Freiheiten…für viele Menschen in Deutschland sind das scheinbar selbstverständliche Eckpfeiler eines zufriedenen Lebens. 2010 bist du nach Deutschland geflohen, musstest bei null angefangen. Wie war insbesondere die Anfangszeit für dich?
Ich habe mir hier mein eigenes neues Leben aufgebaut. Mein Vater war schon länger in Deutschland. Er ist 2000, also 10 Jahre vor mir, aus politischen Gründen nach Deutschland geflüchtet. Als ich in Deutschland ankam, sagte er: „Ich habe mir hier mein eigenes Leben aufgebaut. Bau‘ du dir selbst dein eigenes Leben auf“. Wenn man, wie ich, in einem Kriegsland war, ist man automatisch traumatisiert. Und ich war stark traumatisiert, musste Psychologen aufsuchen, wollte Selbstmord begehen. Aber irgendwann habe ich mir gesagt: Nein, komm, du musst aufstehen! Du bist jetzt in einem neuen Land. Aber ich konnte die Sprache nicht. Also habe ich als erstes ehrenamtlich mit Jugendlichen gearbeitet. Später habe ich bei einem Integrationsprojekt als Kameramann gearbeitet. Dann folgte mein Bundesfreiwilligendienst bei einem interkulturellen Verein. Die Sprache lernte ich durch die Arbeit und den Austausch. Auf einmal konnte ich die Sprache. Nach dem Bundesfreiwilligendienst habe ich bei dem interkulturellen Verein eine Stelle als Leitung des Cafés bekommen. Also hatte ich einen Job und habe Steuern gezahlt, aber meinen Aufenthaltstitel für drei Jahre habe ich erst 2015 erhalten.
Welche Erwartungen, welche Hoffnungen hattest du, als du nach Deutschland gekommen bist?
Ich hatte keine Erwartungen. Ich hatte ja nicht freiwillig geplant, nach Deutschland zu kommen. Ich wollte einfach nur Schutz. Einfach nur nicht getötet werden. Und ich wollte arbeiten. Ich wollte die Sprache schnell lernen, an der Gesellschaft teilhaben. Freiheit war mir besonders wichtig. Jedes Jahr feiere ich am 26. Juni meinen Geburtstag. Dabei habe ich an dem Tag gar nicht Geburtstag. Das ist der Tag an dem ich in Deutschland angekommen bin. Mein Freiheitstag.
Deine Flucht nach Deutschland war lang und gefährlich…
…ja, spätestens 2005 wurde das Leben schwer. Angst. Terror. Ich wusste für mich, dass ich kein Muslim bin. Das ist schwierig. 2006 wurden zwei meiner Onkel von Terroristen ermordet, weil sie keine Muslime sind. 2007 habe ich mein Land verlassen. Mit meiner Großmutter, meiner Schwester und meiner Schwägerin ging die Flucht dann durch viele Länder, mit vielen Wartezeiten. Wir waren auf Schleuser angewiesen, mussten uns oft verstecken. An einer Grenze schossen Soldaten auf uns. Das waren keine Warnschüsse, sondern sie haben wirklich auf uns gezielt. Wir konnten die Kugeln an uns vorbeizischen hören. Meine Großmutter ist hingefallen. An zwei Stellen hat sie sich den Fuß gebrochen. Dann habe ich sie getragen. Wir sind endlos gelaufen… Insgesamt hat unsere Flucht vier Monate gedauert.
2015/16 mussten viele Menschen nach Deutschland fliehen. Wie hast du das wahrgenommen?
Ich war sehr traurig, weil ich tausende Geschichten gehört habe, die schlimm waren. Was viele der Geflüchteten in ihren Herkunftsgebieten und auf der Flucht gesehen haben, war wirklich schlimm.
Deutschland bietet Geflüchteten sicherlich mehr Sicherheiten und Freiheiten als es viele Herkunftsregionen tun. Gleichzeitig sind viele Geflüchtete nun Ausgrenzungen und Rassismen ausgesetzt. Es gibt, gerade in den letzten Jahren und Monaten, einen allgemein spürbaren und äußerst bedenklichen Rechtsruck in Deutschland. Was löst diese Rassismuskrise bei dir aus?
Wer einmal geflüchtet ist, der kann schwierig wieder echtes Vertrauen aufbauen. Mir macht es Angst, dass rechtsextreme Parteien gewählt werden und sogar im Bundestag sitzen. Ich hoffe, dass das in Zukunft nicht so weitergeht. Sollte es so weitergehen, muss ich darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen. Dann muss ich für mich und meine Familie ein Notfall-Land suchen. Das wäre sehr traurig. Den Rechten ist es egal, ob man gläubig ist oder nicht. Ob man Muslim ist oder nicht. Ich bin nicht gläubig, aber für sie bin ich und bleibe ich für immer ein Ausländer. Und sie wollen mich und meine Familie hier nicht. Die Rechten sind sehr gefährlich.
Welche Rassismuserfahrungen hast du gemacht?
Da gibt es viele Beispiele. Einmal fuhr ich mit einigen Freunden Bus. Zwei junge Paare haben uns plötzlich beleidigt und gesagt: „Ihr seid keine Gäste in Deutschland. Geht zurück, wo ihr hergekommen seid!“. Dann zeigte eine der Frauen* den Hitlergruß. Eine ältere Frau* und ein junger Mann* haben sich eingemischt und sich für uns eingesetzt. Wir haben eine Anzeige gegen Unbekannt gemacht. Aber die führte zu nichts.
Worüber definierst du deine Identität? Wer, wie, wo, was ist deine Heimat?
Meine Frau. Meine Kinder. Enge Freunde. Meine Heimat ist Oldenburg. Ich liebe Oldenburg. Ein weiterer Teil meiner Identität ist meine politische Partei. Die SPD. Und Bayern München.
Wie sieht für dich eine gelungene Zukunftsgesellschaft aus?
In der Zukunft sollte es mehr Bildung geben und mehr soziale Projekte. Es sollte auch mehr Angebote geben, in denen sich einige Geflüchtete mit dem Thema Antisemitismus auseinandersetzen. Warum? In einigen Herkunftsgebieten wurde Antisemitismus als „offizielle Bildung“ in der Schule „gelehrt“. Und ich wünsche mir, dass Politiker*innen nicht nur in Wahlzeiten Veranstaltungen machen, sondern immer. Dass Politiker*innen immer im Austausch mit den Bürger*innen sind.
Vielen Dank für das Interview.
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