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Die Umsetzung – Orte. Räume. Themen. Fragen. Antworten. Utopien.

Mit Tischfußballtischen und Flipchart-Papieren im Kofferraum machten wir uns auf eine kleine Tour durch Niedersachsen und veranstalteten die Tischfußballturniere und Diskussionsrunden in drei verschieden großen Städten: Nienburg/Weser, Delmenhorst und Hannover.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Unsere Kooperationspartner_innen vor Ort: „JMD im CJD Nienburg“, „AWO Kreisverband Delmenhorst“ und „Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. – Ortsverband Hannover-Leine“.

Klar war uns: Gelingen können die Veranstaltungen nur durch das persönliche Engagement und den persönlichen Draht der jeweiligen Mitarbeiter_innen vor Ort, zu denen die geflüchteten Männer Vertrauen haben.

In den Wohnheimen und soziokulturellen Treffpunkten benötigten wir jeweils einen Raum, der genug Platz für 3-4 Tischfußballtische, einen Stuhlkreis und ein Flipchart bot. Im Raum sollten wir möglichst ungestört sein können. Denn geflüchtete Männer haben männerspezifische Sichtweisen und Fragen. Die Bereitschaft, darüber offen zu reden, ist in einer geschlechterhomogenen und geschützten Gruppe einfacher. Daher waren auch während der Veranstaltungen als Helfer und Beobachter nur Männer vor Ort.

Teilnehmen an den Veranstaltungen konnten Männer zwischen 18 und 35 Jahren mit Flucht-/Migrationserfahrung. Erste Deutschkenntnisse sollten vorhanden sein. An allen Veranstaltungsorten waren wir offen dafür, dass Teilnehmende auch von außerhalb dazu kommen konnten. Teilnehmen konnten jeweils 12 bis 25 Männer. Jede Veranstaltung dauerte zwischen drei und vier Stunden.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Moderiert, miteinander gesprochen und diskutiert wurde während der Veranstaltungen auf Deutsch. Nur ganz selten musste auf Übersetzungen von Teilnehmenden für Teilnehmende zurückgegriffen werden. Die pädagogischen Inhalte wurden so vorbereitet, dass sie trotz ihrer Komplexität einfach(er) zu verstehen und zu besprechen waren, ohne dass gezwungenermaßen in Vereinfachungen gedacht und gesprochen werden musste.

Zu Anfang wurde der grundsätzliche Ablauf der Veranstaltungen erklärt, um Transparenz und Rahmung zu geben. Im 30-minütigen Wechsel wurde gemeinsam gespielt und geredet. Der besondere Spielmodus des Tischfußballturniers, der schnell und einfach vermittelt werden kann, brachte immer wieder neue Teamkonstellationen zusammen und ermöglichte allen Teilnehmern, fast bis zum Ende der Veranstaltungen mitzuspielen. Dabei wurde meist aus dem Mitspieler der einen Runde per Losentscheid der Gegenspieler der nächsten Runde. Wer mehrmals gewonnen hatte, wurde einem ergebnisschwächeren Spieler zugelost. Dieser Modus sorgte dafür, dass unter den Teilnehmern viel spielerischer Wechsel und zwischenmenschlicher Austausch stattfand.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Eine „anstrengende “Wettkampfatmosphäre“ kam damit zu keiner Zeit auf, denn im Fokus stand das gemeinsame Erleben und Spielen.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Ganz ohne Spielregeln kommt weder das Kickern noch das Diskutieren aus. Die einzige Spielregel für die Diskussionen war: Wertschätzend miteinander und über die Themen des Tages zu sprechen.

Als Einstieg für die Diskussionsrunden gab es eine Raterunde. Über den Moderatoren selbst! Warum? Um Distanzen zum Moderatoren und zum Themenfeld möglichst früh durch persönliche Beispiele und Humor abzubauen.

„Wer verdient mehr Geld? Meine Partnerin oder ich?“, war die erste Frage. Die Teilnehmer sind sich alle sicher: Der Moderator. Und so ist es auch. Schon müssen alle schmunzeln. Männer meist als Besserverdiener! Zur echten Geschlechtergleichstellung in Deutschland ist es eben auch noch ein weiter Weg.

„Was für ein Auto fahre ich?“. Aufgeregt und wild werden diverse Mittel- bis Oberklassewagenmarken gerufen. Dabei fährt der Moderator zeitlebens Bahn und Fahrrad. 😉

„Was kann ich im Haus/Haushalt gut?“. Kochen. „Was kann ich im Haus/Haushalt überhaupt nicht?“. Dinge reparieren. Die Verkehrung gängiger Klischees sorgt für erste Lacher. Einige Teilnehmer beginnen sogleich mit Berichten zu ihren eigenen Kochkünsten.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Nach dieser gemeinsamen Auflockerung ging es darum, sich selbst Identitätspunkte zu überlegen, aufzuschreiben und auf einem großen Blatt am Flipchart zu platzieren. Was macht mich glücklich? Jetzt? In Zukunft? Für immer? Das waren die Fragen. Je wichtiger die Identitätspunkte, desto mittiger sollten sie auf dem gemeinsamen Blatt platziert werden. Hauptnennungen hierbei waren: Familie, Freunde und Arbeit.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Die Männer sind im Allgemeinen sehr dankbar für die Unterstützung, die sie bisher hier in Deutschland erhalten haben und wissen sehr gut, wer oder was ihnen in Zukunft helfen kann. Gemeinsam wurde diskutiert und notiert: Was hilft mir? Was bremst mich? Fast alle Männer sind strukturellen Alltagsrassismen und Integrationshemmnissen ausgesetzt. Gegenstrategien, wie sie auf Ausgrenzungen und Rassismen reagieren können, haben sie nicht. Die Erfahrungen werden einfach ertragen. Es bleibt eine, auch im Raum wirklich spürbare, Verunsicherung.

Um impulshaft den Wandel von Geschlechterrollen in Deutschland zu vermitteln, brachte der Moderator als Einstieg Beispiele des Wandels anhand seiner eigenen Familie, Eltern und Großeltern.

Klare und starre Rollenaufteilungen bei den Großeltern: Die Großväter ein Leben lang in ein und demselben Beruf als Molkereimeister und Landwirt. Die Großmütter hauptverantwortlich für Haushalt und jeweils 5 Kinder.

Die Eltern betroffen von der strukturell erzwungenen Entscheidung, die Kleinlandwirtschaft aufzugeben, statt industrielle Landwirtschaft zu betreiben.

Vor- und Nachteile dieser Wandlungsprozesse wurden miteinander diskutiert. Den meisten Teilnehmern gefällt das Modell, in dem die Männer einen Job in der unmittelbaren Nähe und ihr Leben lang haben und die Rollenaufgaben klar verteilt sind. Viele wünschen sich aber, dass a) sie selbst mehr an der Erziehung der Kinder beteiligt sind und b) die Frauen und Kinder (hierbei werden auch stets die Töchter mitgedacht und genannt) Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt haben.

Wie steht es um den Wandel der eigenen Rolle durch Flucht-/Migrationsprozesse? Diese Diskussionsfrage führte zur allgemeinen Erkenntnis, dass zumindest in der Anfangsphase in Deutschland alle Teilnehmenden mit einer Rollenabwertung zu kämpfen hatten. Viele verspürten auch Druck, den vielfältigen und teils widersprüchlichen und strukturell nicht erfüllbaren Rollenerwartungen und -anforderungen von Familie, Freunden und der Aufnahmegesellschaft genügen zu wollen und zu müssen.

Welche Ressourcen bringen die Männer mit und welche Unterstützung brauchen sie noch, um in Deutschland ihre eigene Rolle zu finden? Durch die Antworten der Teilnehmerrunde auf diese Fragen wurde sehr deutlich: Nicht mangelnde Eigenmotivation bremst viele der jungen Männer in ihrem Streben nach Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe ab und aus. Vielmehr erschweren strukturell und durch Fluchteffekte bedingte lange Phasen des Ausharrens, des Wartens auf Zugänge zu Sprach-, Ausbildungs- und Jobangeboten ihr Streben nach echter Teilhabe.

Echte Teilhabe, das ist einhellige Meinung der Gruppe, kann für alle nur darüber stattfinden, dass sie im Arbeitsmarkt integriert sind. Um zu sehen, inwieweit ihre Rollenvorstellungen die Ausbildungs-/Berufswahl und Arbeitszeitmodelle und daran anknüpfend ihre Rollenerwartungen an Partnerin/Familie beeinflussen, näherten wir uns im Stuhlkreis mit einem Pool an Bildern verschiedener Berufsgruppen und -ausübender diesem komplexen Themenfeld. Jeder sollte sich ein für sich passendes oder alternativ ein überhaupt nicht passendes Bild aussuchen, es hochhalten und sich kurz dazu äußern.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Koch, Lehrer, LKW-Fahrer. So vielfältig wie die Bilder waren auch die Vorstellungen, welche Berufe für die Männer (nicht) infrage kommen. Einige gerieten bei der Kurzvorstellung ihres Berufswunsches geradezu ins Schwärmen. Den allermeisten war klar: Der Weg in die Wunschberufstätigkeit ist lang, aber entmutigt wirkte keiner.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Mut und Zielstrebigkeit ziehen die meisten größtenteils aus ihrer Vision, mit einem Job die (zukünftige) Familie zu ernähren und sich durch ihre Arbeit selbst zu verwirklichen. Untätiges Warten, ein Leben ohne Arbeit: Für alle Teilnehmer eine äußerst unattraktive Situation oder Vision.

Für ihr Verständnis und die Konstruktion der eigenen Männlichkeit ist (Vollzeit-)Arbeit unerlässliche Grundbedingung. Dieses Verständnis prägt daher auch stark ihre Sichten auf und Ansichten zu Familienkonzepten, innerfamiliären Rollenerwartungen und -aufteilungen und Erziehungsfragen.

Mithilfe eines Pools an Bildkarten, die eine Reihe von Väter-, Mütter-, Erziehungs- und Arbeitsaufteilungskonzepten abbilden, wurde diskutiert, welche Rollenvorstellungen und -aufgaben für die Männer attraktiv sind oder werden könnten. Jeder Teilnehmer sollte wieder eine Karte aussuchen, die ihm gefällt oder überhaupt nicht gefällt und sich vor der Gruppe kurz argumentativ dazu äußern.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Diese Übung machte sehr deutlich, wie heterogen die Männer bezüglich ihres Selbstverständnisses und ihres Verständnisses von Geschlechterrollen sind.

Das Bild eines Vaters, der das Kleinkind in einer Trage um den Körper geschnallt hat und gleichzeitig Wäsche zum Trocknen aufhängt, löste die stärksten sichtbaren Reaktionen aus. Für viele der Teilnehmer ist das eine (noch) undenkbare Rollenausgestaltung als Familienvater. Der Beteiligungswunsch an Erziehung der Kinder und Haushaltsaufgaben ist bei fast allen Teilnehmenden vorhanden. Allerdings sehen die meisten Männer ihre Hauptaufgabe in der Erwerbsarbeit. Die Beteiligung an der Erziehung der Kinder wird zunehmend als eigener Gewinn bewertet. Sie wollen viel Zeit mit ihren Kindern verbringen.

Einige merkten kritisch an, dass dieser Wunsch in Konflikt mit der für sie so wichtigen Vollzeiterwerbsarbeit geraten kann. Arbeitszeitmodelle wie Teilzeit oder Auszeiten lehnten sie dennoch für sich ab.

Rollenspielen – Über Geschlechterrollen gemeinsam reden –

Abgeschlossen wurden die Veranstaltungen mit der Frage nach Zukunftsvisionen, nach Utopien für ein Zusammenleben in Deutschland. Die meisten Teilnehmer wünschten sich ein besseres Leben für ihre Kinder. Besser heißt: Ein besseres Leben als die Männer es gerade haben oder zukünftig haben werden. Viele Männer sehen sich in einer Brückenbaufunktion für eine gelingende gesellschaftliche Teilhabe ihrer Kinder in der Zukunftsgesellschaft.

weiter zum Kapitel: Die Rückschau – Stolpersteine. Überraschendes. Bleibendes.

Für alle Fragen des gleichberechtigten Zusammenlebens in Niedersachsen.

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