Sprachlos gemacht werden durch Migration? – Zur Situation von migrantischen Frauen in Niedersachsen
Was reproduzieren wir durch Sprache? Welche vermeintlichen Wirklichkeiten werden durch Sprache dargestellt? Welche Gruppen werden sprachlos gemacht, weil sie mit ihrer Sprache nicht gehört werden? Darüber diskutierten am 5.12. Leyla Ercan (Agentin für Diversität am Niedersächsischen Staatstheater), Duygu Sipahioğlu-Sery (Projektleiterin des Projekts Speak UP!, Mitarbeiterin im Mädchenhaus KOMM) und Asrin Askendery (Künstlerin, Philosophie- und Informatikstudentin). Moderiert und konzipiert wurde die Veranstaltung von Tinka Greve (VNB e.V.).
Zur Situation und Repräsentation migrantischer Frauen
In der Podiumsdiskussion machten die drei Referentinnen deutlich, dass geflüchtete und migrierte Frauen in Deutschland an vielen Stellen sprachlos gemacht werden. Sie werden in der medialen und politischen Darstellung zumeist nicht als handelnde Subjekte, sondern ausschließlich als Begleiterinnen von Männern gedacht. Leyla Ercan, Agentin für Diversität am niedersächsischen Staatstheater, betonte jedoch, dass migrierte Frauen in ihren Familien häufig die aktivere Rolle besitzen und diejenigen sind, die die Entscheidungen treffen, beispielsweise über Finanzen. Trotzdem, kritisierte sie, besitzen sie insgesamt keine gesellschaftliche Rolle, sondern bleiben meistens unsichtbar.
Duygu Sipahioğlu-Sery – Projektleiterin und Mitarbeiterin im Mädchenhaus KOMM – machte darüber hinaus deutlich, dass über geflüchtete Frauen häufig eine Geschichte erzählt wird, die sie selbst nicht mitbestimmen können. Dies führt in der Folge dazu, dass Angebote für geflüchtete Frauen gemacht werden, wovon diese sich jedoch nicht angesprochen fühlen, da sie letztlich nicht für sie gemacht sind, sondern allein für die Geschichte, die über sie erzählt wird.
Auch scheitern viele Maßnahmen, weil sie die Zielgruppe (geflüchtete Frauen) nicht differenziert genug betrachten, sondern sie als eine einheitliche Gruppe ansprechen. Dadurch kommt es dazu, dass in Sprachkursen Personen nebeneinander sitzen, die völlig verschiedene Bildungsniveaus haben und eigentlich eine viel individuellere Förderung bräuchten.
Asrin Askendery – Künstlerin und Studentin – betonte zudem, dass es schwierig sei, als migrierte Frau in Deutschland aktiv zu werden, da auf der einen Seite „aktiv sein“ als Frau in einer traditionelleren Gesellschaft häufig nicht gelernt wurde, gleichzeitig aber auch die Aufnahmegesellschaft zugewanderten Frauen viele Steine in den Weg legt, sodass sie ihr Potential nicht entfalten können.
Aktivismus von migrantischen Frauen
Nichtsdestotrotz berichteten die Referentinnen ebenso von Aktivismus, gelingenden Empowerment-Projekten und Widerstand von migrantischen Frauen. Beispielsweise wurde von dem Projekt Speak UP! erzählt, welches es jungen zugewanderten Mädchen ermöglicht, in einem geschützten Rahmen Sprache zu lernen – in einem von ihnen selbst bestimmten Tempo und ohne eine Korrektur „von oben herab“.
Asrin Askendery erzählte zudem von ihrer Fotokunst und dass Fotografie für sie bedeutet, zu zeigen, was sie in ihrem tiefsten Inneren beschäftigt. Bei ihren letzten Ausstellungen ging es beispielsweise um Frauenrechte in ihrer Herkunftsregion oder um ihr Ankommen in Deutschland als geflüchtete Person und Frau. Sie betonte, dass das Foto als Medium seine ganz eigene Sprache hat und damit auch Inhalte unabhängig von der jeweiligen gesprochenen Sprache transportieren kann.
Solidarität
Um Aktivismus und die soziale und ökonomische Teilhabe anderer zu ermöglichen und Selbstrepräsentation zu unterstützen, muss zudem die Frage nach Solidarität gestellt werden. Wie können wir solidarisch miteinander sein – auch unabhängig von geteilter Erfahrung? Diese Frage berührt, nach Leyla Ercan, auch die Frage nach dem Zuhören und der Abgabe von Privilegien. Auch wenn es schmerzhaft sein kann, heißt Teilhabe ermöglichen manchmal auch, den eigenen Platz für jemanden räumen, der*die im öffentlichen Diskurs sonst nicht repräsentiert ist und keine Stimme hat.
Was muss sich wie verändern?
Was die Frage nach Veränderung betrifft, waren sich die drei Referentinnen einig, dass im öffentlichen Raum und bei Diskussionen mehr Platz geschaffen werden sollte für Menschen, die sich selbst repräsentieren können und wollen. Damit bekommen benachteiligte Personen(gruppen) die Möglichkeit, ihre Geschichte oder ihre Version der Geschichte selbst erzählen zu können. Für die eigene Repräsentation ist Sprache ein relevantes Mittel – daher ist es wichtig, dass auch ein gesellschaftliches Umdenken dahingehend stattfindet, dass Sprache nicht erst „richtig“ oder „perfekt“ sein muss, um verstanden zu werden und allen Sprachen eine gleiche Wertigkeit zugesprochen wird.
Es ist anstrengend, immer wieder Zugangsbarrieren zu benennen, die auch mit Sprache zu tun haben (beispielsweise, wenn Angebote für geflüchtete Frauen nicht leicht zugänglich und nicht leicht auffindbar sind). Diese Barrieren abzubauen sei jedoch, laut Leyla Ercan, eine Frage von Ressourcen und Engagement, welches sich im Endeffekt lohnen würde (auch von einer Logik des Arbeitsmarktes her gedacht). Ein Schritt dahingehend könnte es beispielsweise sein, wie Duygu Sipahioğlu-Sery betonte, Empowerment-Projekte (finanziell) zu fördern und gleichzeitig innerhalb dieser Projekte die Inhalte von der Zielgruppe selbst bestimmen zu lassen.